Der Streit in der SPD über das Sicherheitspaket spitzt sich zu. Im stern-Interview wirft Juso-Chef Philipp Türmer dem Kanzler Einschüchterung vor – und rechnet mit der Abschiebepolitik ab.
Herr Türmer, die Ampel-Fraktionen haben sich nach wochenlangem Streit auf einen Kompromiss zum „Sicherheitspaket“ geeinigt. Zufrieden?
Überhaupt nicht. Dieses Paket sorgt für eine massive Diskursverschiebung nach rechts, weil der Kampf gegen Islamismus zu einem Kampf gegen Geflüchtete gemacht wird. Das ist falsch.
Viele der Vorhaben wurden abgeschwächt, auch auf Druck der SPD. Was stört Sie denn?
Die Verbesserungen reichen uns bei weitem nicht aus. Das Paket der Ampel schikaniert Geflüchtete statt Islamisten, das ist das Grundproblem. Auch weiterhin sollen Kinder und Jugendliche leichter in Länder abgeschoben werden können, in denen ihnen Folter und Todesstrafe drohen. Für sogenannte Dublin-Fälle werden die Asylbewerberleistungen nahezu komplett gestrichen und ihre Verelendung damit in Kauf genommen. Und ich halte es für absolut unangemessen, Schutzsuchende direkt hinter der Grenze in Einrichtungen einzusperren. Wir sollten stattdessen viel mehr darüber reden, wie wir Geflüchtete gut in unsere Gesellschaft integrieren können.
„Letztem SPD-Kanzler ist das sehr hart auf die Füße gefallen“
Noch in dieser Woche soll das Maßnahmenbündel im Bundestag beschlossen werden. Dem Vernehmen nach soll der Bundeskanzler intern ein Machtwort gesprochen haben, um die SPD-Fraktion zu disziplinieren. Einige hörten da laut „Spiegel“ eine Drohung mit der Vertrauensfrage heraus. Gute Idee?
Ich bin froh, dass es in der Fraktion Widerstand gegen dieses Paket gibt. Ich war nicht in der Sitzung dabei, aber die Geschichte hat gezeigt: Dem letzten sozialdemokratischen Bundeskanzler, der mit solchen Mitteln Diskussionen unterdrücken wollte, ist das sehr hart auf die Füße gefallen. Ich hoffe, dass sich niemand, der gegen das Paket stimmen will, davon einschüchtern lässt und kann nur allen sagen: Lasst Euch nicht unterkriegen, ihr habt die volle Unterstützung der Jusos. Das ist für Wahlkampf, Listen und Parteitage vor Ort viel wichtiger als die gute Laune des Kanzlers.
Was erwarten Sie jetzt von der SPD-Fraktion und dem Bundeskanzler?
Ich erwarte, dass möglichst viele SPD-Abgeordneten dem Sicherheitspaket in dieser Form nicht zustimmen. Das Paket geht in die völlig falsche Richtung.
Wie müsste denn ein Sicherheitspaket aussehen, bei dem auch der Juso-Chef mitgehen kann?
Als Reaktion auf Solingen müssen wir konsequenter gegen Islamismus vorgehen. Es braucht mehr Präventionsarbeit, härteres Vorgehen gegen islamistische Hetze im Netz und bestmöglich ausgestattete Sicherheitsbehörden. Was nicht hilft, ist die pauschale Kriminalisierung von Geflüchteten. Das eine hat nichts mit dem anderen zu tun.
Was meinen Sie damit?
Seit 2016 sind ungefähr zwei Millionen Geflüchtete nach Deutschland gekommen, davon waren 40 in irgendeiner Form in islamistische Anschlagspläne verwickelt oder daran beteiligt. Das sind 40 zu viel. Aber diese Relationen zeigen doch, dass wir zwei Debatten voneinander trennen müssen: Wie sieht eine solidarische Asylpolitik aus? Und wie können wir konsequent Islamismus bekämpfen? Millionen Geflüchtete zu bestrafen wegen 40 kriminellen Islamisten verbietet sich aber.
Nur zeigt ja der Fall Solingen, dass es zwischen Geflüchteten und Islamismus zuweilen verhängnisvolle Verknüpfungen gibt.
Die weit überwiegende Mehrheit der Geflüchteten hasst Islamisten genauso wie Sie oder ich, ist häufig sogar vor Islamismus geflohen. Die Ampel hat keine konsequente Antwort auf die Frage gegeben, wie sie Islamismus bekämpfen möchte. Dadurch ist ein Vakuum entstanden, das die AfD nach dem Messerangriff von Solingen ausgenutzt hat – leider mit Unterstützung von Friedrich Merz und seiner CDU – indem sie Fluchtmigration und Islamismus gleichgesetzt haben. Die demokratische Mitte hat es versäumt, dieser rechten und falschen Rhetorik etwas entgegenzusetzen – man hat sich ihr ergeben. Das war ein großer Fehler.
„Bei dieser völlig verfehlten Abschiebepolitik könnte ich nur noch heulen“
Ein Fehler, den auch Ihre SPD gemacht hat?
Ja. Die SPD ist gut beraten, endlich eine eigene Erzählung zu finden, wie eine solidarische und gelungene Geflüchtetenpolitik und gelungene Integration aussehen können. Ich will, dass wir uns zurückbesinnen auf unsere unglaubliche Stärke, Menschen durch Arbeit und Bildung in diese Gesellschaft zu integrieren. Die noch bestehenden Arbeitsverbote für Geflüchtete müssen weg. Es braucht mehr berufsbegleitende Sprachkurse. Aus Geflüchteten müssen Kollegen werden, die Teil unserer Gesellschaft sind – das ist nach meiner Ansicht der Schlüssel.
Bundeskanzler Scholz hat die Migrationspolitik zur Chefsache erklärt und nimmt für sich in Anspruch, dass sich da endlich was bewegt: Bei der regulären Arbeitsmigration, aber auch der Begrenzung irregulärer Migration. Wie zufrieden sind Sie mit seiner Bilanz?
Im Moment gibt es keine sicheren und legalen Fluchtrouten nach Europa. Solange diese nicht existieren, sind Schutzsuchende gezwungen, es irgendwie über die Grenzen zu schaffen. Den Begriff der „irregulären“ Migration lehne ich deswegen grundsätzlich ab. Nun zum Bundeskanzler: Seitdem Olaf Scholz im großen Stil abschieben will, versuchen die Ausländerbehörden ihre Zahlen irgendwie nach oben zu schrauben. Die Folge: Es werden Menschen abgeschoben, die hier hervorragend integriert sind. Gerade wurde eine 18-Jährige in Hessen abgeschoben, die schon einen Ausbildungsvertrag in der Pflege auf dem Tisch liegen hatte. Das ist doch Wahnsinn – und leider auch ein Ergebnis der Abschieberhetorik, die der Kanzler vor einem Jahr angestimmt hat. Bei dieser völlig verfehlten Abschiebepolitik könnte ich nur noch heulen.
15: Scholz ermahnt SPDKritiker des Sicherheitspakets – aa4a55ce4cb7a3fd
Innenministerin Nancy Faeser hat weitere Abschiebeflüge für Gefährder und Straftäter nach Afghanistan angekündigt. Einverstanden?
Es widerspricht komplett meinem Rechtsstaatsverständnis, dass Kriminelle in Länder abgeschoben werden, wo niemand garantieren kann, dass sie ihre Strafe auch tatsächlich absitzen. Genau das ist bei der letzten Afghanistan-Abschiebung passiert: Die Straftäter waren nach kurzer Zeit wieder auf freiem Fuß. Es braucht eine konsequente Bestrafung nach rechtsstaatlichen Standards – und die leistet das Justizsystem der Taliban ganz sicher nicht.
Wird diese Debatte nicht in der SPD geführt?
Mein Eindruck ist, dass wir als Sozialdemokraten vor allem darüber reden müssen, wie wir Geflüchtete schnell und gut in unsere Gesellschaft integrieren. Da gibt es enorme Chancen für unsere Gesellschaft und für Geflüchtete, die meistens genau das wollen: Hier ankommen und eine Arbeit finden. 21.100 Geflüchtete verhindern heute bereits jeden Tag als Pflegekräfte, dass unser Gesundheitssystem zusammenbricht. Von solchen Erfolgsgeschichten müssen wir lernen. Das funktioniert aber nicht, wenn wir permanent über Migration und Geflüchtete reden, als wären sie eine massive Bedrohung für unser Land. Ich glaube, sie sind viel mehr eine große Chance für unsere Gesellschaft.